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< Deutschland bleibt Rohstoffland
26.11.2021 13:34 Alter: 2 yrs

Wir brauchen eine Energiepolitik des kommunalen Empowerments

Hinter uns liegt ein Bundestagswahlkampf, in dem Politiker aller Parteien in ihren Forderungen zugespitzter und in ihren Versprechungen großzügiger als im politischen Tagesgeschäft waren. Würden wir all das Angekündigte für bare Münze nehmen, dann müssten wir in der neuen Legislaturperiode mit einem nicht anhaltenden Reform- und Finanzierungssegen aus Berlin rechnen, der Energiewende und Klimaschutz in Deutschland in eine weltweite Vorreiterrolle katapultiert. Ein Gastbeitrag von Michael Riechel, Vorsitzender des Vorstandes der Thüga AG.


Michael Riechel, Vorsitzender des Vorstandes Thüga AG Foto: Thüga, Dirk Bruniecki

Der Energiebedarf der Bundesrepublik Deutschland wird durch eine Vielzahl von Einflussgrößen bestimmt. Neben saisonalen und witterungsabhängigen Faktoren beeinflussen vor allem die Bevölkerungszahl, die Größe der gesamten Wohnfläche, die Zahl der Haushalte, die Anzahl an Kraftfahrzeugen und ihre Fahrleistungen und der Umfang der wirtschaftlichen Produktion das Niveau des Energieverbrauchs.

Innovation kommt aus der Praxis vor Ort

Die Wahrheit ist allerdings, dass Reformen und Innovationen bislang nur in den seltensten Fällen aus den Berliner Amtsstuben kommen. Man findet ihren Ursprung eher in Freiburg, Nürnberg und Wilhelmshaven. Das, was Deutschland stark macht, ist sein einzigartiger Föderalismus, die Expertise und die Innovationskraft aus der Praxis vor Ort. Es wird Zeit, dass die neue Bundesregierung diese Erkenntnis zu einer zentralen Handlungsmaxime ihrer Klima- und Energiepolitik macht! Daher erwarten wir von den anstehenden Koalitionsverhandlungen vor allem drei Dinge: Die Förderung einer dezentral getriebenen Energiewende, einen stärkeren Fokus auf das Gelingen der Wärmewende mit klimaneutralen Gasen und schließlich keine weiter steigenden Energiepreise, um die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht zu gefährden.

Energiewende geht nur mit kommunalen Unternehmen

Die Energiewende und die Erreichung der Klimaschutzziele können nur mit Kommunen und kommunalen Unternehmen gelingen. Hier laufen Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, Innovationskraft und Umsetzungskompetenz zusammen. Die vorherige Bundesregierung hat die Expertise aus der Praxis zu oft außen vorgelassen. Die braucht es aber, um langfristig eine erfolgreiche Energiewende zu garantieren. Von der neuen Bundesregierung erwarte ich hier einen Kurswechsel, ansonsten werden wir bei Klimaschutz und Energiewende weiterhin nicht mit der Geschwindigkeit vorankommen, die es im Angesicht der Herausforderungen und Zielverfehlungen braucht.

Eine dezentrale Energiewende bedeutet zuallererst, sich um die Sicherung der kommunalen Strukturen wie der Infrastruktur zu kümmern. In diesen Strukturen wird die Energiewende vor Ort umgesetzt: durch Technik, Dienstleistungen und Innovation, aber auch durch den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Um ein Beispiel zu nennen: In unserem Reallabor „Westküste100“ erforschen wir mit den Stadtwerken Heide eine vernetzte Wasserstoffwirtschaft. Die vielseitige Einsetzbarkeit von grün erzeugtem Wasserstoff steht im Zentrum des Projekts. Wir wollen zeigen, wie die Wärmeversorgung über die Gasverteilnetze mit Wasserstoff dekarbonisiert werden kann. Das Reallabor ist das erste von zehn Projekten dieser Art bundesweit. Es geht hier nicht um ein Loblied auf die Thüga, ähnliche Projekte findet man erfreulicherweise in weiteren Konstellationen deutschlandweit. Es geht darum, dass Expertise und Erfahrungswerte von Kommunen und kommunalen Unternehmen aus ganz Deutschland in Berlin mehr Gewicht bekommen müssen.

Wärmesektor nicht weiter ausblenden

Daneben wird es entscheidend sein, dass die neue Bundesregierung die stiefmütterliche Behandlung des Themas Wärme in der aktuellen Energiepolitik beendet. Die klimapolitisch notwendige Wärmewende wird nur gelingen, wenn wir im Gasbereich auf der vorhandenen Infrastruktur aufbauen und die hier auf dem Servierteller liegenden Möglichkeiten für Dekarbonisierung nutzen. Um es klar zu sagen: Nur mit Erdgas und der zunehmenden Einspeisung von klimaneutralen Gasen wie Wasserstoff und Biomethan wird die Wärmewende schnell funktionieren, die dem Klima und gleichsam der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit dient.

Aus der Praxisperspektive bleibt hier bei den künftigen Koalitionsparteien auf Beweglichkeit und Kompromissbereitschaft im Sinne der Sache zu hoffen. Millionen von Menschen in Deutschland werden heute über Kraft-Wärme-Kopplung mit Strom und Wärme bzw. über die Gasverteilnetze mit Gas für ihre Heizungen versorgt. In Großstädten und dicht besiedelten Gebieten ist die zunehmend grüne Fernwärme ein effektives Instrument, um große Teile des Gebäudebestandes schnell zu dekarbonisieren – das muss ausgebaut werden. In den ländlicheren Regionen kommen wir über die Beimischung von klimaneutralen Gasen zum Erdgas und der sukzessiven Umstellung auf 100 Prozent klimaneutrale Gase zum Klimaerfolg.

Grafik: Thüga

Smart Cities: Stadtentwicklung im digitalen Zeitalter

Für eine nachhaltige und integrierte Stadtentwicklung sind die Kommunen und kommunale Energieversorger die entscheidenden Akteure. Ihr Ziel ist es, vitale und lebenswerte Städte und Gemeinden zu erhalten. Mit der 2017 vorgelegten Smart City Charta fordert die Dialogplattform Smart Cities, die Digitalisierung aktiv im Sinne einer nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklung zu gestalten. Dazu beschreibt sie ein normatives Bild einer intelligenten, zukunftsorientierten Kommune.

Ohne Akzeptanz geht nichts

Die dritte große Aufgabe wird es sein, die Akzeptanz für die Energiewende in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und zu erhöhen. Ein wichtiger Beitrag dafür: Die Ausgaben für Energie im Zaum halten – und hier den Blick insbesondere auf die staatlich induzierten Preisbestandteile richten. Eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts Civey aus dem Mai 2021 zeigt, dass fast zwei von drei Deutschen nicht oder eher nicht bereit wären, mehr Geld für ihre private Energieversorgung auszugeben. Gerade vor Ort in den Kommunen wird die Energiepreisdebatte eng mit der Offenheit und Akzeptanz für Innovation verknüpft.

Insbesondere beim Strompreis brauchen wir daher dringend eine Reform der Ab- und Umlagen, aber auch im Gasbereich sind die Großhandelspreise zuletzt stark nach oben gegangen und Lösungsoptionen müssen mit der Politik zeitnah erörtert werden. Eine Reform im Strombereich wird schon lange debattiert, wirklich vorangekommen ist die Große Koalition jedoch nicht. Eine Steuerfinanzierung der Erneuerbaren ist aus unserer Sicht sinnvoll, da so sozialpolitischen Aspekten Rechnung getragen werden kann. Eine Querfinanzierung zwischen den Sektoren, zum Beispiel vom Wärme- zum Stromsektor, halten wir wiederum für kontraproduktiv.

Nicht im Klein-Klein verlieren

Die sich bildende Ampel-Koalition betont den Wert von Modernisierung und Fortschritt als ein sie verbindendes Element. In der Energiepolitik bleibt zu hoffen, dass das mehr als Lippenbekenntnisse sind. Energiewende und Klimaschutz sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben, dafür brauchen wir einen technologieoffenen, sektoren- und branchenübergreifenden Ansatz. Wir dürfen uns in den nächsten Jahren nicht mehr im Klein-Klein verlieren. Kommunales Empowerment statt zentralem Dirigismus und Planwirtschaft – das sollte das Motto sein.

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