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18.08.2021 11:54 Alter: 3 yrs

Redispatch 2.0 – Frischekur für die Energiewirtschaft

Am 1. Oktober 2021 tritt das Redispatchsystem 2.0 in Kraft, mit vielen neuen Elementen für alle betroffenen Akteure. Ein Gastbeitrag für THEMEN!magazin von Torsten Maus, Vorsitzender der Geschäftsführung der EWE NETZ GmbH. Als einer der drei deutschen Mitglieder der neu geschaffenen europäischen Organisation der Verteilnetzbetreiber EU DSO Entity, vertritt er deren Interessen mit über einer Million Anschlüssen.


Torsten Maus, Vorsitzender der Geschäftsführung EWE NETZ GmbH Foto: Foto- und Bilderwerk

Dezentralität auch in der Transformation des Energiesystems ist längst Realität. Herausfordernd sind die Komplexität und das Tempo, die der Umbau des Systems erfordert.

Die EWE NETZ GmbH bietet ihr Know-how im Bereich Redispatch 2.0 auch anderen Verteilnetzbetreibern (Stadtwerken) als Dienstleistung an. Das Dienstleistungspaket umfasst u. a. die Anbindung an Connect+, die gesamte Netzbetreiberkoordination, das Erstellen von verlässlichen Einspeiseprognosen sowie Unterstützung bei der Kundenkommunikation.

Die Energiewirtschaft wird gerade vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Prinzip Einbahnstraße bei der Stromversorgung hat längst ausgedient. Auch wenn zentrale Großkraftwerke natürlich noch eine Rolle spielen, ist Dezentralität auch in der Transformation des Energiesystems längst Realität.
Während die erste Phase der Energiewende vom Aufbau erneuerbarer Erzeugungskapazität geprägt war, geht es künftig vor allem um die effiziente Integration immer größerer Energiemengen aus regenerativen Quellen. Inzwischen beträgt der Anteil der erneuerbaren Energien an der in Deutschland erzeugten Strommenge fast 50 Prozent. Das führt dazu, dass Netzbetreiber immer häufiger Maßnahmen wie die Reduzierung dezentral erzeugten Stroms im Rahmen des Einspeisemanagements ergreifen müssen, um die Netzsicherheit zu garantieren. Damit wird die grundlegende Herausforderung der Energiewende deutlich: Die Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit eines Systems zu gewährleisten, das überwiegend auf der volatilen Stromerzeugung aus Wind und Sonne beruht.

Energiewende ist machbar

Blicken wir auf das Verteilnetz von EWE NETZ im Nordwesten Deutschlands: An unser rund 80.000 Kilometer langes Stromnetz sind mehr als 60.000 EEG-Anlagen angeschlossen. Es gibt kein Zurück mehr. Das Energiesystem der Zukunft wird regenerativ, dezentral und vor allem klimafreundlich sein. Wir bei EWE haben uns vorgenommen, sogar schon bis 2035 klimaneutral zu werden. Die Voraussetzungen dafür sind sehr gut. Der in unserem Netz im Nordwesten Deutschlands transportierte Strom ist heute schon zu fast 100 Prozent grün und dabei sicher. Mit nur rund 3,6 Minuten durchschnittlicher Ausfallzeit pro Jahr und Kunde sind wir aktuell sogar Europameister! Das beweist, die Energiewende ist machbar.

Knowhow und Technologien sind vorhanden

Einer maximalen Last von 2,2 Gigawatt steht eine installierte Einspeiseleistung von 6,3 Gigawatt aus erneuerbaren Energien in unser Stromnetz gegenüber. Um hier die Balance zu halten, brauchen wir Digitalisierung, sprich eine intelligente Steuerung der Netze. Dafür ist es notwendig, unsere Infrastruktur durch intelligente Netzbetriebsmittel und eine bessere Auslastung zu optimieren.

Das Projekt enera hat erfolgreich demonstriert, wie eine aktive Netzbetriebsführung und der netzdienliche Handel auf einem Flexmarkt zur Integration erneuerbarer Energien beitragen können. Mit der technischen Nachrüstung von Erzeugern und Verbrauchern, innovativen Betriebsmitteln, der Installation von Speichern und Anlagen zur Sektorkopplung sowie mit Leistungselektronik und Steueragenten wurde das Energiesystem der Modellregion im Nordwesten technisch flexibilisiert. So stehen sowohl bei der Wirkleistung als auch bei der Blindleistung mehr Möglichkeiten für die Netzstabilisierung bereit. Wir wissen jetzt, wie wir die Digitalisierung unserer Verteilnetze weiter vorantreiben können – und das aber nicht im Alleingang, sondern selbstverständlich im Verbund mit den anderen Verteilnetzen und den Übertragungsnetzen.

Foto: EWE NETZ

Umspannwerk von EWE NETZ in Ostfriesland: Volatile Strommengen ins Netz zu bringen, ist herausfordernd.

Den Verteilnetzbetreibern kommt bei der Energiewende eine wachsende Rolle zu, da in ihre Netze immer mehr Strom aus erneuerbaren Energien eingespeist wird. Mit dem Gesetz zur Beschleunigung des Netzausbaus vom 13.05.2019 (BGBl. I 2019, S. 706) wurde auch ein verpflichtender energetischer und bilanzieller Ausgleich von Maßnahmen nach § 13a Abs. 1 EnWG durch den Netzbetreiber eingeführt. Die Regelungen treten zum 01.10.2021 in Kraft (Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes zur Beschleunigung des Netzausbaus).

Meilenstein in der Zusammenarbeit für das Engpassmanagement

Auf das Redispatch sind wir hervorragend vorbereitet. Erst vor kurzem haben wir mit dem Start einer deutschlandweit einheitlichen IT-Plattform für den zukünftigen Austausch der Redispatch-Daten einen Meilenstein erreicht. Sowohl Anlagen- und Netzbetreiber als auch Netzbetreiber untereinander können darüber kooperieren und Informationen austauschen. Notwendig war dazu ein gemeinsamer Kraftakt der Branche.

16 Verteilnetzbetreiber, darunter EWE NETZ, und drei Übertragungsnetzbetreiber haben sich schon vor Jahren im Projekt Connect+ zusammengeschlossen, um einheitliche Standards zu entwickeln. Und das ist gelungen! Bislang konnten wir als Verteilnetzbetreiber erst reagieren und die Einspeiseleistung reduzieren, wenn ein Engpass im Netz bereits vorliegt. Prognosen ermöglichen es jetzt, im Vorfeld Maßnahmen zu ergreifen, um potentielle Engpässe zu vermeiden. Der startende intensive Datenaustausch der Netzbetreiber mit Marktteilnehmern bzw. Anlagenbetreibern und Direktvermarktern macht es möglich, diese Maßnahmen abgestimmt zwischen den Akteuren zu koordinieren, um das Gesamtsystem schon im Vorfeld stabil zu halten. In puncto Digitalisierung der Energienetze bringt uns dies entscheidend nach vorne.

Europäische Perspektive einnehmen

Ein weiteres Beispiel für gelungene Branchenkooperation ist der Schulterschluss bei der gemeinsamen Nutzung des 450 Megahertz-Frequenzbandes. Es sorgt zukünftig für digitalen schwarzfallsicheren Betriebsfunk und ermöglicht die Steuerung dezentraler und intelligenter Netzkomponenten. Wir brauchen solche Branchenmodelle, um Zukunftsthemen, die uns alle bewegen, bewältigen zu können. Beispiel hierfür ist der Hochlauf der Elektromobilität, der unsere Netze fordern wird. Oder der bevorstehende Systemwechsel auf den Energieträger Wasserstoff. Eine rein deutsche Perspektive reicht hier nicht mehr aus, denn unsere Netze sind Teil des europäischen Verbundnetzes. Ein Austausch über diese Zukunftsthemen ist deshalb auch auf europäischer Ebene notwendig. Mit der Schaffung der EU DSO Entity, der neuen EU-Organisation europäischer Verteilnetzbetreiber, hat der europäische Gesetzgeber jetzt bestätigt, welche herausragende Rolle die Verteilnetzbetreiber in Europas Energiesystem spielen und wie wichtig sie für das Erreichen der Klimaziele sind. Als eines von drei deutschen Board-Mitgliedern der neuen Organisation dürfen wir die Interessen der Verteilnetzbetreiber mit über einer Million Anschlüsse vertreten.

Rahmenbedingungen müssen stimmen

Notwendig für den Systemwandel sind neben Investitionen in den konventionellen Netzausbau vor allem Investitionen in die Digitalisierung und Intelligenz der Netze. Allein EWE NETZ gab im Jahr 2020 mehr als 280 Mio Euro für die Qualität und den Ausbau seiner Netze aus. Ein Hemmnis für die gesamte Branche, um dieses Niveau aufrecht erhalten zu können ist dabei die bevorstehende Senkung des Eigenkapital-Zinssatzes durch die BNetzA. Schon jetzt ist der deutsche Zinssatz im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich niedrig.

Sollte der Wille zur Energie- und Klimawende ernst gemeint sein, darf man entscheidenden Akteuren nicht mitten im Marathon zur Energiewende die Luft zum Atmen nehmen. Gerade die schrecklichen Situationen in den Hochwassergebieten zeigen, wie wichtig schnell handlungsfähige und funktionierende Netzbetreiber sind, um die Menschen mit Energie zu versorgen. Wir besitzen das Knowhow und wissen technisch genau, was zu tun ist, um unsere Netze in Richtung Klimaneutralität zu führen. Eine Herausforderung aber bleibt: Wir müssen dies unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bewerkstelligen können.