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< EU-Taxonomie – Neue Messlatten für den Klimaschutz
20.08.2021 15:53 Alter: 3 yrs

Lieber eine Gaspipeline als klimaschädlicher Kohlestrom

Der jahrelange Streit zwischen den USA und Deutschland über die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist beigelegt. THEMEN!magazin hat das Thema mehrfach aufgenommen und prominente Autoren haben sich dazu geäußert. Wir freuen uns, das Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup, Präsident Handelsblatt Research Institute, einen Kommentar zur Gaspipeline aus dem Newsletter „DER CHEFÖKONOM“ als Zweitveröffentlichung für unsere Leser zur Verfügung stellt.


Prof. Dr. Dr. h. c. Bert Rürup, Präsident Handelsblatt Research Institute (HRI) Foto: Handelsblatt Research Institute

Das Handelsblatt Research Institute wurde Anfang 2013 als unabhängiges Forschungsinstitut unter dem Dach der Verlagsgruppe Handelsblatt gegründet. Seine Keimzelle ist die Research-Abteilung der Redaktion Handelsblatt.

Als Gründungs-Präsidenten gewann das Institut 2017 mit Prof. Dr. Dr. h. c. Bert Rürup einen der renommiertesten Ökonomen Deutschlands.

Auf den ersten Blick wirkt die Meldung, dass die letzten Kilometer der Gaspipeline „Nord Stream 2“ nun fertig gebaut werden, wie eine Nachricht aus vergangener Zeit. Schließlich sichert sich Deutschland damit auf Jahrzehnte Erdgaslieferungen aus Russland – also mit einem fossilen Brennstoff, dessen Nutzung nachweislich das Klima schädigt.

Und ja, Deutschland ändert mit diesem Projekt nichts an seiner Abhängigkeit von einem Land, dessen Staatsführung sicher nicht den hier vorherrschenden Vorstellungen von einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat entspricht.

„Bedrohung für Mitteleuropa“

Die Einigung besagt im Wesentlichen: Die USA geben ihren Widerstand gegen das Projekt auf; Russland hat Sanktionen zu erwarten, sollte die Regierung Gas als Druckmittel einsetzen; und gleichzeitig bekommt die Ukraine viel Geld und noch mehr moralische Unterstützung. Nachvollziehbare Kritik an der Einigung kam aus Polen und der Ukraine. Beide Länder warnten in einer gemeinsamen Mitteilung, diese Entscheidung habe eine „politische, militärische und energietechnische Bedrohung für die Ukraine und Mitteleuropa geschaffen“. Was sie freilich nicht erwähnten: Sie fürchten vor allem um ihre bisherigen Einnahmen aus Durchleitungsgebühren.

Gaspipeline ist kein Klimaschutzprojekt

Sicher, „Nord Stream 2“ ist für sich genommen kein Klimaschutzprojekt. Doch welchen Nutzen hätte es gehabt, wenn eine Elf-Milliarden-Euro-Investitionsruine auf dem Grund der Ostsee gelegen hätte? Und, wäre dem Klima nicht vielleicht auch geholfen, wenn die rund fünf Millionen Ölheizungen alleine in Deutschland in einem ersten Schritt möglichst zügig durch moderne Gasheizungen ersetzt würden? Um diese Heizungen bei der nächsten Modernisierungsrunde in 15 oder 20 Jahren durch dann (hoffentlich!) verfügbare emissionsfreie Anlagen zu ersetzen?

Lieber Gas- als Kohlestrom

Hinzu kommt: Wenn in Deutschland im nächsten Jahr die letzten Atomreaktoren vom Netz gehen, wird die entstehende Lücke sicher nicht allein mit Hilfe von Windrädern geschlossen werden können. Wenn es gut für die Umwelt läuft, kann ein Großteil dieser Lücke mit Gas (!) geschlossen werden. Falls es aber schlecht läuft, muss die besonders klimaschädliche Kohlestromproduktion hochgefahren werden.

Natürlich gibt es keine Alternativen zum Schutz des Klimas. Daher ist es umso wichtiger, möglichst viel richtig und vor allem möglichst wenig falsch zu machen. Außerdem sollten die vorliegenden Fakten nicht ignoriert werden

Kein Wohlstandsverzicht in Sicht

Deutschland kann das Weltklima nicht retten, und selbst die ganze EU kann dies nicht. Sicher ist es richtig, wenn reiche Länder wie Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen. Doch auch hierzulande dürfte die Bereitschaft, zum Wohle des Klimas auf Wohlstand zu verzichten, wenig ausgeprägt sein.

Dass die Deutschen in den vergangenen Jahren merklich weniger geheizt haben, weniger gereist sind, weniger Fleisch gegessen haben oder auf anderen gewohnten Konsum verzichtet haben, ist nicht bekannt. Selbst die Grünen halten sich in diesem Wahlkampf mit Äußerungen zurück, dass die Bundesbürger ihr Verhalten massiv ändern müssten.

Foto: Axel Schmidt/Nord Stream 2

Die Pipeline verläuft parallel zur 2012 fertiggestellten Leitung Nord Stream 1. Wie diese soll Nord Stream 2 eine Jahreskapazität von 55 Mrd. m3 haben. Der Bau und der künftige Betrieb obliegen dem im schweizerischen Zug angesiedelten Unternehmen Nord Stream 2 AG, einer Tochter des staatlichen russischen Energiekonzerns Gazprom. (Quelle: NZZ)

Klimaschädliche Energieträger bleiben gefragt

Selbst wenn Deutschland in Rekordzeit seine komplette Dekarbonisierung realisieren würde, ist ungewiss, wie die Angebotsseite darauf reagieren würde, also Öl-Multis wie Saudi Aramco, National Iranian Oil und Chevron sowie das Gasimperium Gazprom.

Womöglich werden diese Anbieter fossiler Energieträger ihre Produktion sogar steigern, solange ihre Bodenschätze noch in weiten Teilen der Welt gefragt sind.

Durch die absehbare Abkehr Europas von den fossilen Brennstoffen werden die Preise fallen, so dass eine klimaschädliche Industrialisierung für viele aufstrebende Staaten in Asien, Afrika und Osteuropa attraktiver wird. Sinkende Preise auf dem Weltmarkt würden also womöglich die Gesamtnachfrage steigen lassen.

Klimawende braucht Erfindergeist und Realismus

Gefragt ist bei der zwingend gebotenen Klimawende – neben Erfindergeist, Ingenieurkunst und Technik – vor allem Realismus. Mit Aktionismus wird dieses teuerste Projekt der Menschheitsgeschichte nicht zu stemmen sein.

Der Beitrag ist im Original veröffentlicht auf HB.com. Quelle: Newsletter „DER CHEFÖKONOM“.

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