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08.02.2024 15:05 Alter: 309 days

Energiewirtschaftlicher Diskurs – Fokus auf Investitionen

„Das EWI sieht in der Frage der Investitionen eine Schlüsselvoraussetzung für das Gelingen der energiepolitischen Pläne. Gemäß einer aktuellen Analyse müsste das Investitionsniveau gegenüber den vergangenen Jahren deutlich steigen. In der Stromversorgung beispielsweise müssten sich die gesamten Investitionen für Erzeugungsanlagen und Netze gegenüber dem historischen Niveau mindestens verdoppeln – und zwar Jahr für Jahr bis 2030.“


Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Direktor, EWI-Institut Foto: Almut Elhardt

Die EWI-Energietagung hatte am 07. Dezember 2023 Jubiläum. Seit 75 Jahren bietet das EWI-Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln mit der Energietagung ein wegweisendes Forum für den energiewirtschaftlichen Diskurs. THEMEN!magazin sprach mit EWI-Direktor Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge zu ausgewählten Themen der Jubiläumstagung.

Prof. Bettzüge, wie reflektiert der Institutsdirektor ein solches Jubiläum?

Theodor Wessels, der Gründungsdirektor des Instituts, wollte damals mit den Arbeitstagungen eine Plattform für eine Aussprache zwischen den verschiedenen Zweigen der Energiewirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft schaffen. Dieser Absicht ist das EWI tatsächlich bis heute nachgekommen, zunächst im zweijährlichen, später im jährlichen Rhythmus. Die Jubiläumstagung stand in dieser Tradition, und wir haben mit Dankbarkeit und auch ein wenig Stolz gefeiert.

Welche übergreifende Aussage traf die Jubiläumstagung?

Die Jubiläumsveranstaltung stand unter genau derselben Überschrift wie schon die erste Arbeitstagung des EWI im Jahr 1948: „Wirtschaftliche und rechtliche Grundfragen der Energiewirtschaft“. Diese Wahl des Titels verdankt sich nicht nur der gerade in Köln besonders stark ausgeprägten Neigung zur Brauchtumspflege. Sondern es steckt auch eine inhaltliche Überlegung dahinter: Ähnlich wie im Jahr 1948 steht die deutsche Energiewirtschaft in und vor einer vergleichbar großen Aufgabe, nämlich der Aufgabe, in großem Umfang neuen Kapitalstock zu errichten. Selbstverständlich ist die Ausgangslage der Energiewirtschaft des Jahres 2023 in vielen Aspekten nicht vergleichbar mit der des Jahres 1948. Technisch gibt es heute viele neue Möglichkeiten, institutionell sind die Grenzen zwischen Staat, Wettbewerb und Monopol vor allem im Zuge der europäischen Liberalisierungspolitik seit dem Jahr 1998 ganz neu gezogen worden, und die abträglichen Folgen der Nutzung fossiler Brennstoffe für die Zwecke der Energieversorgung sind heute deutlich präsenter als vor 75 Jahren. Dennoch gibt es in den Themen der beiden Tagungen viele Parallelen. Im Grunde geht es heute wie damals um die Frage, wie der Um- und Neuaufbau der Energiewirtschaft bestmöglich organisiert und geordnet wird. Oder, wie NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in seiner Festrede ausführte: der klimaneutrale Umbau des Energiesystems sei ein enormer gesamtgesellschaftlicher Kraftakt.

Mit welchem Blick sieht das EWI das Verhältnis Energiewende und Investitionsbedarf?

Das EWI sieht in der Frage der Investitionen eine Schlüsselvoraussetzung für das Gelingen der energiepolitischen Pläne. Daher hat ein Team des EWI kürzlich eine Rechnung veröffentlicht, die den möglichen Investitionsbedarf anhand des Klimaneutralitätsszenarios aus der dena-Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“, für die das EWI das Hauptgutachten erstellt hat, sowie der inzwischen erfolgten weiteren politischen Festlegungen quantifiziert. Nach dieser Einschätzung müsste das Investitionsniveau gegenüber den vergangenen Jahren deutlich steigen. In der Stromversorgung beispielsweise müssten sich die jährlichen Investitionen für Erzeugungsanlagen und Netze gegenüber dem historischen Niveau unmittelbar mindestens verdoppeln – und bis 2030 auf diesem höheren Niveau fortgeführt werden.

In welchen Größen werden die Investitionsbedarfe benannt?

Die Schätzung des EWI bezieht sich nur auf die Stromwirtschaft, den Wohngebäudesektor sowie den Verkehr. Im Ergebnis läge der Bedarf an Neuinvestitionen in den drei genannten Bereichen bis zum Jahr 2030 in Höhe von insgesamt etwa 1,9 Billionen Euro oder etwa 300 Milliarden Euro im Jahr. Davon sind bereits 220 Milliarden Euro Verzug, also Investitionen, die laut Klimaneutralitätsszenario eigentlich zwischen 2018 und 2022 hätten stattfinden sollen, aber nicht stattgefunden haben.

Bleiben wir beim Stromsektor. Wie zeigt sich hier der Investitionsverzug?

Der Stromsektor weist knapp die Hälfte des ermittelten Verzugs auf. Größter Posten ist der im Vergleich zum betrachteten Szenario unzureichende Ausbau der Windenergie. Aber auch bei der Photovoltaik und dem Netzausbau gab es per Ende 2022 einen erheblichen Rückstand. Insbesondere bei Windenergieanlagen, großen PV-Anlagen auf Freiflächen sowie Stromverteil- und Übertragungsnetzen müsste das Investitionsvolumen also deutlich gegenüber dem historischen Niveau steigen, wenn das Klimaneutralitätsszenario und die darüber hinaus gehenden politischen Ziele erreicht werden sollen. Investitionen in PV-Aufdachanlagen, die insbesondere von privaten Haushalten getätigt werden, liegen bereits nahe an dem ermittelten Niveau.

Der Gesamtinvestitionsbedarf dürfte aber deutlich höher liegen?

Das ist richtig, denn die Analyse behandelt nur einen Teil der mit der Energiewende unmittelbar und mittelbar verbundenen Investitionen. Nicht betrachtet wurden beispielsweise die benötigten Umstellungsinvestitionen in der Industrie oder in der Gaswirtschaft. Auch der Investitionsbedarf in den vorgelagerten Wertschöpfungsstufen, wie beispielsweise in der Komponentenfertigung und der Verkehrsinfrastruktur stellen weitere Umsetzungsvoraussetzungen dar. Zudem wurden auch keine Preiseffekte aus der deutlichen Erhöhung der Nachfrage nach den erforderlichen Investitionsgütern und Arbeitskräften berücksichtigt. Die Analyse inklusive Datenblatt finden Sie unter https://www.ewi.uni-koeln.de.

Welche Bedeutung messen Sie diesem enormen Investitionsbedarf zu?

Die ermittelten Größenordnungen des Investitionsbedarfs sind enorm – sowohl im Vergleich zu bisherigen Investitionsvolumina als auch im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt. Das bedeutet zum einen, dass man sich nicht einfach darauf verlassen kann, dass Investitionen in diesem Umfang ohne weiteres getätigt werden. Welche Anreize können dieses Kapital mobilisieren? Wer bringt das erforderliche Eigenkapital auf? Unter welchen Bedingungen würden die Eigentümer wesentlicher Unternehmen hier im erforderlichen Umfang nachschießen, zum Beispiel Kommunen als Eigentümer von kommunalen Energieversorgungsunternehmen. Und mit Blick auf die Governance ist zu fragen: Wie werden diese Investitionen zeitlich und räumlich effizient koordiniert? Denn eine Fehlkoordination würde zu erheblichen volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsverlusten führen. Andererseits zeigt dieser Befund, dass die allgemeine Wirtschaftsentwicklung nicht unabhängig vom Grad der Umsetzung der Klimaneutralitätsszenarien gedacht werden kann wie bislang meist getan. Energiewende heißt nicht: alles bleibt, wie es war, und wir ändern nur die Primärenergieträger. Sondern die Energiewende muss im größeren Zusammenhang der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bewertet werden. Mit Blick auf die Frage des Investitionsbedarfs für die Energiewende heißt das beispielsweise: Bei einer konstanten volkswirtschaftlichen Sparquote müsste dieser Kapitalbedarf zulasten von Investitionen in anderen Sektoren gehen, oder es müsste die gesamtwirtschaftliche Sparquote oder der Kapitalimport aus dem Ausland steigen. Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass die entsprechenden Effekte mittlerweile in makroökonomisch relevanten Größenordnungen liegen dürften.

Quelle: Destatis und EWI-Analyse

Die Grafik zeigt die getätigten Investitionen im Stromsektor für die Jahre 2015 bis 2022 (graue Säulen, reale Werte, Basisjahr 2022) und den abgeschätzten durchschnittlichen, jährlichen Investitionsbedarf für die Jahre 2023 bis 2030 auf Basis dena LS2 und Regierungsplänen (gelbe Säule).

Abschließend die Frage, welche Forschungsbeiträge hat das EWI für die Kraftwerksstrategie?

Das EWI hat sich in verschiedenen Analysen mit dem Neubaubedarf an gesicherter Leistung im deutschen Energiesystem befasst. Die Ergebnisse liegen in etwa in der Größenordnung des von der Bundesregierung formulierten Bedarfs. Darüber hinaus hat das Institut eine Checkliste mit den zentralen Anforderungen an den Umsetzungsplan der Strategie erstellt. Als besonders wichtige Kriterien werden darin die zeitliche und räumliche Koordination, die Kosteneffizienz der Anreizsysteme und die Minimierung von Verzerrungen im Großhandelsmarkt angeführt. Zudem müssen Vorkehrungen gegen Nichtverfügbarkeit der angereizten Leistung im Bedarfsfall sowie gegen den Missbrauch von Marktmacht getroffen werden. Ebenso muss das alles EU-Beihilfekonform sein und das benötigte öffentliche Fördervolumen sollte transparent abgeschätzt werden. Und zu guter Letzt: Die Kraftwerke sollen ja dazu verpflichtet werden, ab einem bestimmten Zeitpunkt auf den Energieträger Wasserstoff umzustellen. Daher muss eine Lösung gefunden werden, die die Investoren gegen das Risiko absichert, ob dieser neue Energieträger tatsächlich im erforderlichen Umfang und zum vorgegebenen Zeitpunkt an dem jeweiligen Standort verfügbar ist.

Prof. Bettzüge, wir danken für das Gespräch

www.ewi.uni-koeln.de

Grafik: ewi

Die Grafik zeigt den abgeschätzten gesamten Investitionsbedarf für die Jahre 2023-2030 auf Basis dena LS2 und Regierungsplänen aufgeteilt nach untersuchten Sektoren.