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< Energiewende 2.0 – mit Wasserstoff und klimaneutralen Gasen den Umbau des Energiesystems voranbringen
09.09.2020 09:35 Alter: 4 yrs

Die Erneuerbaren sind das »new normal« der Energiewirtschaft

Die Energieversorgung wird sich in den kommenden Jahrzehnten dramatisch verändern: Immer mehr Menschen leben in Metropolregionen, und Industrien werden dort entstehen oder sich weiterentwickeln, wo eine Stromversorgung aus Erneuerbaren gesichert ist. Auf diese Entwicklungen stellt sich der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz aktiv ein und hat für sein Netzgebiet die Initiative „von 60 auf 100 bis 2032 – für eine Wirtschaft mit Zukunft“ gestartet. Dr. Dirk Biermann, Geschäftsführer Märkte und Systembetrieb, informiert im Gespräch mit THEMEN!magazin über die strategische Neuausrichtung und die Chancen für Wirtschaft und Industrie.


Dr. Dirk Biermann, Geschäftsführer Märkte und Systembetrieb, 50 Hertz Transmission GmbH Foto: Jan Pauls

Dr. Dirk Biermann verantwortet seit 2012 bei 50Hertz u. a. die Bereiche, die für die Steuerung des Übertragungsnetzes und damit die Frequenz- und Spannungshaltung zuständig sind, sowie die Energiewirtschaft, die Netzplanung sowie den Stromhandel und -austausch in benachbarte Übertragungsnetze des In- und Auslands. Er gehört unter anderem dem Börsenrat der European Power Exchange EPEX SPOT SE in Paris sowie dem Aufsichtsrat der European Energy Exchange EEX AG in Leipzig an.

Herr Dr. Biermann, was genau verbirgt sich hinter der plakativen Zahlenkombination 60-100-2032?

Wir haben die Ambition, die Energiewende in Ostdeutschland und Hamburg, also in unserem Netzgebiet, noch eine Umdrehung schneller voranzubringen als geplant. 2019 wurden bereits 60 Prozent des Strombedarfs über das Gesamtjahr gerechnet aus Erneuerbaren Energien gedeckt – und in zwölf Jahren wollen wir bilanziell 100 Prozent erreichen. Das ist nicht trivial, aber erreichbar, wenn man weitere vorhandene Potenziale bei Offshore- Windenergie, aber auch Onshore bei Wind und PV ausschöpft. Konkret müssten Windeignungsflächen in der Ostsee früher in die Genehmigungsphase gehen als bisher im Netzentwicklungsplan vorgesehen. Und auch bei der Windkraft an Land, die momentan sicherlich in einer schwierigen Phase ist, gibt es in vielen dünn besiedelten Gegenden im Osten Deutschlands noch reichlich Potenzial. Nach und nach laufen jetzt die ersten Windparks aus der EEG-Förderung raus und müssen sich zukünftig wettbewerblich aufstellen. Dabei ergeben sich – auch unter Einhaltung der neuen Abstandsregeln Wohnsiedlungen – Potenziale, durch Re-Powering die Erzeugungsleistung zu sichern oder sogar zu erhöhen – ohne neue Flächen zu beanspruchen. Um diese Potenziale zu erschließen ist es allerdings notwendig, dass die Rahmenbedingungen, etwa bei der Flächenausweisung, stimmen. Das ist heute noch nicht überall der Fall.

Wie steht dieses Ziel im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2038? Wird damit das im Kohleausstiegsgesetz verankerte Ziel in Frage gestellt?

Die klare Antwort ist: Nein. Unser Netzgebiet ist keine Strominsel. Wir nehmen am europäischen Strommarkt teil und der politische Fahrplan steht fest. Daran rütteln wir nicht. Der Kohleausstieg steht in engem Zusammenhang zum deutschen und europäischen Ziel, bis 2050 klimaneutral werden zu wollen. 100 Prozent im Jahresmittel heißt eben nicht 100 Prozent in jeder Sekunde des Jahres. Wir werden auch nach 2032 aller Voraussicht nach noch konventionelle Kraftwerke benötigen. Für Tage und Stunden, an denen die Erneuerbaren nicht ausreichend Strom liefern. Fest steht aber schon heute: Die Erneuerbaren sind der neue Normalzustand – das new normal – in unseren Netzen und Systemen.

Die 60-100-2032-Strategie hat auch eine industriepolitische Komponente. Welcher Zusammenhang besteht zum Ausbau der Erneuerbaren?

Da besteht ein sehr großer Zusammenhang. Der neue Normalzustand geht einher mit einer verstärkten Nachfrage nach emissionsfreiem Strom. Nach Jahren der Skepsis – manchmal auch der Kritik an der Energiewende – hat die Industrie jetzt den Schalter umgelegt, den Klimaschutz fest in strategischen Ausrichtungen verankert und somit auch in den Investitionsplanungen für diekommenden Jahrzehnte. Da spielt der direkte Strombezug, etwa über PPAs (Power Purchase Agreements) eine wichtige Rolle in der Post-EEG-Ära, die noch in diesem Jahrzehnt anbrechen wird. Beide Trends – mehr Strom aus Erneuerbaren und mehr Nachfrage nach Erneuerbaren – haben wir als Übertragungsnetzbetreiber mit unserer neuen Strategie im Blick und in der Entwicklung. Denn auf dem Weg zu 100 Prozent Erneuerbaren ist noch sehr viel zu tun, darüber sind wir uns im Klaren.

Was bedeutet das für Ihren Geschäftsbereich, die Märkte und den Systembetrieb?

Wir müssen zunächst – auf professionelle Weise – ein Stück weit in die Glaskugel schauen. Also mit allen Prognoseinstrumenten, die uns heute und in Zukunft zur Verfügung stehen, Antworten auf folgende Fragen finden: Wie entwickeln sich Märkte? Wie ist die demografische und wirtschaftliche Entwicklung in unserem Netzgebiet? Welche netzplanerischen Schlüsse sind daraus ableitbar? Wie können wir die Leistungsfähigkeit unserer Netze und Betriebsmittel erhöhen und anpassen an sich verändernde Rahmenbedingungen? Die Antworten auf diese Fragen stehen in engem Zusammenhang zu zwei Entwicklungen in unserem Netzgebiet. Erstens steigen die Bevölkerungszahlen in den Metropolregionen. Berlin hat auch international eine Strahlkraft bekommen, die man dieser Stadt vor wenigen Jahren noch nicht zugetraut hätte. Bald werden innerhalb der Berliner Landesgrenzen über vier Millionen Menschen wohnen und im sogenannten Speckgürtel rund 40 Prozent der Brandenburger. Hamburg wird 2030 über zwei Millionen Einwohner haben. Und ähnliches gilt in kleinerem Maßstab auch für die Wirtschaftsräume Leipzig und Dresden im Süden und auch Rostock, Stralsund und Schwerin im Nord-Osten. Zweitens gibt es längst eine wirtschaftliche Trendwende im Osten, zumindest in den genannten wirtschaftlichen Kernregionen. Der Bau von Tesla in Grünheide ist da nur die Spitze eines Leuchtturms, dem – davon sind wir überzeugt – weitere wichtige Ansiedlungen, etwa in der Lausitz und damit auch in Sachsen, folgen werden.

Also muss der Netzausbau schneller vorankommen und auf diese Entwicklung reagieren?

Das ist eine wichtige Komponente und die Basis für eine erfolgreiche Energiewende insgesamt. Aber wir werden angesichts der teilweise dynamischen wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen vor allem das bestehende Netz dort stärker auslasten, wo es möglich und erforderlich ist. Wir werden also unsere Prognosetools weiter verbessern, um Erzeugung und Verbrauch sowie die Belastung unserer Netze und Betriebsmittel noch besser vorhersehen und damit besser planen zu können. 50Hertz ist schon heute Vorreiter beim Redispatch mit Erneuerbaren. Wir wollen im engen Schulterschluss mit den Verteilnetzbetreibern diese Prozesse weiter vorantreiben. Da wird zum Beispiel der IT-gestützte Redispatch- Ermittlungs- und Redispatch-Abwicklungsserver (RES/RAS), der –federführend für alle vier ÜNBs – bei 50Hertz angesiedelt ist, zu einer deutlichen Optimierung der Prozesse führen. Ein weiteres wichtiges Instrument, das uns seit einigen Monaten zur Verfügung steht und zu mehr Prognosequalität und damit mehr Sicherheit und Stabilität führt, ist die Nutzung der sogenannten RLM-Daten von Großverbrauchern, die nicht direkt ans Übertragungsnetz angeschlossen sind. Früher kamen diese Daten erst nach einigen Wochen bei uns an, jetzt erreichen uns die Viertelstundenwerte des Vortages. Damit werden wir zum einen der Kontrollfunktion gegenüber den Bilanzkreisverantwortlichen besser gerecht und zum anderen können wir diese verschlüsselten Daten nutzen, um das System noch effizienter steuern und auslasten zu können. Wir sehen einfach noch klarer, wie sich Verbräuche entwickeln. All diese Analyse- und Prognosetools finden dann natürlich auch ihre Entsprechung in Hard- und Software auf der Netzseite. So wird in Zukunft der witterungsabhängige Freileitungsbetrieb (WAFB) eine wichtige Rolle spielen bei der Höherauslastung von Netzen. Dazu laufen bei uns mehrere Projekte mit unterschiedlichen technischen Ansätzen, um den Zustand von Freileitungen zu erkennen, zu analysieren und daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Und wir werden an neuralgischen Punkten unseres Netzes in den kommenden zehn Jahren 14 Statcoms in Betrieb nehmen, mit denen Blindleistungskompensation auch ohne konventionelle Kraftwerke ermöglicht wird.

Wärmeenergie spielt in den Metropolen eine wichtige Rolle, dezentrale Lösungen wie Wärmepumpen oder Solarthermie sind dort schwierig umzusetzen. Wie betrachten Sie dieses Thema als Übertragungsnetzbetreiber?

Klar ist für uns: Strom muss so effizient wie möglich eingesetzt werden, weil er auch in Zukunft nicht im Überfluss vorhanden ist. Und elektrische Anwendungen sind nun einmal äußerst effizient. Andererseits werden wir bei steigendem Anteil fluktuierender Erzeugung auch in Zukunft Lastspitzen – vielleicht sogar Dauer-Lastspitzen – haben, die die Netze nicht verarbeiten können. Trotz Netzausbau. Hier kann die Umwandlung von Strom in einen anderen Energieträger sinnvoll sein. Am preiswertesten ist derzeit Wärme. Deshalb haben wir in Kooperation mit Stadtwerken und Energiedienstleistern bereits fünf Power-to-Heat-Projekte in Rostock, Neubrandenburg, Stralsund, Parchim und Hamburg auf den Weg gebracht. Wir übernehmen die Investitionskosten – dafür bekommen wir vollen Zugriff auf die Anlagen und können sie zuschalten, wenn wir ein Überangebot an Windstrom im Netz haben. Eine weitere Anlage wollen wir in Hamburg-Wedel gemeinsam mit Hamburg Wärme auf den Weg bringen.

Und Wasserstoff?

Auf jeden Fall interessant. Wir beteiligen uns an drei Wasserstoff- Reallaboren in der Lausitz („Referenzkraftwerk Schwarze Pumpe“), im Chemierevier Leuna („GreenHydro- Chem“) und in Hamburg („Norddeutsches Reallabor“). Mit Wasserstoff betritt ein weiterer Energieträger die Bühne. Dadurch wird das Thema Sektorkopplung deutlich an Dynamik gewinnen. Wasserstoff wird aus Strom gewonnen, beide hängen zusammen wie Zwillinge. Aber es wird noch einige Zeit brauchen, bis wir hier auch wirtschaftlich tragfähige Lösungen sowohl für die Industrie als auch andere Anwendungen sehen. Dass diese Lösungen kommen werden, daran habe ich allerdings wenig Zweifel.

Herr Dr. Biermann, wir danken für das Gespräch.

Weitere Information: www.50Hertz.com

Foto: Jan Pauls

50Hertz betreibt das Übertragungsnetz im Osten Deutschlands und Hamburg mit einer Stromkreislänge von 10.400 Kilometern und verantwortet damit die sichere Stromversorgung von rund 18 Millionen Menschen. Im Juli 2020 hat 50Hertz die neue strategische Ausrichtung „von 60 auf 100 bis 2032 – für eine Wirtschaft mit Zukunft“ kommuniziert: Von derzeit 60 Prozent soll der Anteil der Erneuerbaren am Jahresstromverbrauch im Netzgebiet auf 100 Prozent bis zum Jahr 2032 steigen.
Anteilseigner von 50Hertz sind die Elia Group (80 %) und die KfW (20 %).