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02.03.2017 15:23 Alter: 7 yrs

Digitales Defizit: Energieversorger mit Nachholbedarf

Der aktuell erhobene „Digitalisierungsindex EVU“ der internationalen Managementberatung OLIVER WYMAN sieht die Marktstellung der Versorger in Gefahr. Denn die etablierten deutschen Energieversorgungsunternehmen (EVU) nutzen die Potenziale der Digitalisierung bislang nur begrenzt – insbesondere in den Segmenten Vertrieb und Erzeugung.   Jörg Stäglich, Partner bei OLIVER WYMAN und Leiter der europäischen Energieversorger- Practice der Managementberatung unterstreicht: „Wenn diese wichtigen Bereiche der Wertschöpfungskette nicht richtig aufgegleist sind, kann auch das Potenzial aus Digitalisierung nur bedingt gehoben werden.“


Foto und Grafiken: OLIVER WYMAN

 Insgesamt muss die Energiewirtschaft nachholen, um effizienter zu werden, Kunden besser zu bedienen und die Markteinstiegshürden für neue oder bekannte Wettbewerber zu erhöhen. Andernfalls droht der Branche, Marktanteile auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette an neue Marktteilnehmer zu verlieren. Im Fokus der Untersuchung im Zeitraum Dezember 2016 standen der Grad der Digitalisierung von acht deutschen Energieversorgern entlang der Wertschöpfungsstufen Erzeugung, Handel, Netze und Vertrieb.

Im B2C-Vertrieb zählten dazu etwa Fragen zur Nutzung sozialer Medien in der Kundengewinnung, der Intensität mobiler Lösungen im Interaktionsprozess mit dem Kunden, der Nutzung virtueller Agenten im Customer-Care-Prozess und der digitalen Platzierung personaspezifischer Angebote/Customer Journeys. Anhand eines spezifischen Fragekatalogs erfolgte die Bewertung auf einer Punkteskala von null bis 100. (Null bezeichnet nicht vorhandene oder sehr begrenzte Digitalisierung, 100 steht für eine branchenübergreifende Best-in-Class-Lösung). Der daraus abgeleitete Digitalisierungsindex zeigt: Die deutschen Energieversorger stehen bei nur 31 Punkten und schöpfen die durch die Digitalisierung entstehenden Chancen allenfalls nur ansatzweise aus.

Erzeugung und Vertrieb am schwächsten

Besonders am Anfang und am Ende der Wertschöpfungskette sind die deutschen EVU schwach aufgestellt. Der Bereich Erzeugung kommt auf lediglich 30 Digitalisierungspunkte, der Bereich Vertrieb sogar nur auf 23 Punkte.

Dabei bestehen gerade im Bereich der dezentralen Energie-Erzeugung vielfältige Chancen, mittels Digitalisierung die große Menge der in den letzten Jahren errichteten Anlagen effizienter zu managen. Das haben Innovatoren wie das Start-up Kaiserwetter schon vorgemacht: Durch das digitale Management der Anlagen und des gesamten Portfolios wurde erreicht, dass deren technische Leistung und damit auch der finanzielle Ertrag nachhaltig verbessert wurden.

Ein zweites Beispiel: General Electric hat ein real existierendes Kraftwerk digital nachgebaut und kann so die Abläufe simulieren. „Digital Twin“ – so heißt das virtuelle Kraftwerk im Rechner – stützt sich bei der Simulation auf Input aus physischen Größen und modelliert den Status einzelner Kraftwerkskomponenten.

Im Handel (39 Digitalisierungspunkte) werden sich die EVU mit revolutionären digitalen Technologien wie den Blockchains auseinandersetzen müssen. Hier bestehen bei den Unternehmen noch erhebliche strategische Defizite. Die Blockchain-Technologie nutzt kryptografische Listen für Transaktionen und macht so eine zentrale Kontrollfunktion überflüssig. Damit sinken die Eintrittsbarrieren, junge Firmen drängen mit innovativen Lösungen auf den Markt und sorgen für mehr Wettbewerb. So wurde bereits im Frühjahr 2016 in New York der erste Trade für Solarstrom auf der Grundlage von Blockchain-Algorithmen gehandelt.

Im Bereich Netze (41 Digitalisierungspunkte) wenden EVU digitale Analyse-Tools noch nicht konsequent genug an. Dazu gehören etwa Reparaturen an kritischen Teilen der Infrastruktur auf Basis von kontinuierlicher digitaler Überwachung und Predictive Maintenance. Oder auch „selbstheilende Netze“: Bei ihnen werden automatisch Fehler geortet und isoliert, anschließend die Stromversorgung ebenfalls automatisch wiederhergestellt. In Rotterdam zum Beispiel werden solche Netzstrukturen bereits eingesetzt.

Im Vertrieb – vor allem beim Privatkundengeschäft – könnten die EVU durch digitale Kanäle Kundenbedürfnisse signifikant besser und individueller bedienen, als es derzeit geschieht. Soziale Medien, Angebote in Echtzeit und Multi-Channel-Kontaktpunkte – beispielsweise über Apps, Kundenportale und per SMS – sind erste Ansätze in diesem Kontext. In diesem Bereich, so unsere Analyse, können die Versorger von modernen digitalen Vertriebsplattformen internationaler Telekommunikationsunternehmen wie z .B. Jawwy in Saudi-Arabien lernen. Hier ist es gelungen, digitale Kundenkontaktkanäle zu integrieren und erfolgreiche Erlebniswelten aufzubauen.

Potenziale in Vertrieb und Netz heben

Das größte Potenzial ist in der Digitalisierung der Bereiche Vertrieb, Netz und dezentrale Erzeugung zu verorten. Im Netz haben viele Versorger bereits erste Schritte unternommen. Vorrangig im Vertrieb und in der dezentralen Erzeugung müssen sie jedoch aufholen. Dazu zählt auch, dass die Versorger ihre Angebote attraktiver sowie kunden-individueller zuschneiden und über eine Vielzahl digitaler Kanäle an die Kunden herantragen. Dieses Angebot geht heute weit über Strom und andere Commodities hinaus.

Nach vorne schauen und Chancen ergreifen

Innovative Start-ups wie SwitchUp.de und Grid Singularity sind schon in den Bereichen Vertrieb und Handel aktiv und drohen, den etablierten Energieversorgern das Geschäft streitig zu machen. Aber nicht nur deutsche Versorger haben Nachholbedarf. Der Trend ist ganz klar global zu beobachten. Alle Energieversorger müssen sich den digitalen Veränderungen stellen, damit sie weiterhin im Markt erfolgreich agieren können.

Die Herausforderungen, das zeigt der „Digitalisierungsindex EVU“, reichen von einer Verbesserung der Datenqualität über Automatisierungen, optimierten Planungen und Advanced Analytics bis hin zu neuen Technologien um Blockchains und Big Data. Wenn die Energieversorger diese Zukunftsaufgaben lösen, können sie anschließend Produktinnovationen umsetzen, neue Kundensegmente erschließen und bestehende erweitern. Gleichzeitig können sie Prozesse viel effizienter gestalten. Demzufolge liegt in der Digitalisierung der Energiebranche vor allem eine große Chance.

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